Acht Forderungen an die Beteiligten und Verantwortlichen der rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin
Mit anderen Bürgerrechtlern (sie werden am Ende des Dokuments genannt) haben wir diesen Forderungskatalog erstellt:
Im Rahmen der anstehenden Verhandlungen „Rot-Rot-Grün“ für eine neue
Regierungskoalition in Berlin fordern wir alle Beteiligten an den
Gesprächen und in den Parteien dazu auf, sich dafür einzusetzen,
1) die polizeiliche Vorratsdatenspeicherung der personenbezogenen Daten
von DemonstrationsanmelderInnen in der so genannten „Stadtweiten
Veranstaltungsdatenbank“ (VDB) sofort einzustellen und die bislang darin
gespeicherten Daten unverzüglich und unwiderruflich zu löschen,
2) die Praxis der Funkzellenabfragen einzustellen oder zumindest in
ihrem Umfang drastisch zu reduzieren und vor allem die Benachrichtigung
aller davon auch nur temporär betroffenen KommunikationsteilnehmerInnen
entsprechend § 101 Absatz 2 StPO umfänglich und unmittelbar zu
gewährleisten, so wie von der derzeit noch amtierenden Regierung
angekündigt und versprochen, jedoch nicht umgesetzt wurde,
3) die gesetzliche Befugnis zur anlasslosen Videoüberwachung von
Versammlungen („Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und
Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen“) zurückzuziehen
und damit den Grundrechten auf Versammlungsfreiheit und der
informationellen Selbstbestimmung wieder Geltung zu verschaffen sowie
der bundesweiten Zersplitterung der Versammlungsgesetzgebung endlich
Einhalt zu gebieten,
4) das zuletzt noch von Innensenator Henkel angeschobene Pilotprojekt
zum Einsatz von umstrittenen Taser-Waffen bei der Polizei sofort
abzubrechen, um nicht einen gefährlichen Präzedenzfall für den Einsatz
dieser nur angeblichen ungefährlichen Waffe im Polizeialltag zu schaffen,
5) die umstrittene Gefahrengebiets-Politik der Vorgänger-Regierung
endlich zu beenden und künftig keine besonderen Gefahrengebiete mit
polizeilichen Sonderbefugnissen mehr auszuweisen, mindestens aber der
Geheimhaltung der Anzahl, des Umfangs und der Begründung von
Gefahrengebieten ein Ende zu bereiten und neben der Transparenz die
Wirksamkeit, die Verhältnismäßigkeit und damit die Rechtmäßigkeit, also
den Sinn dieser Maßnahme von unabhängiger Stelle evaluieren zu lassen,
bevor anlasslose Kontrollen und Durchsuchungen von Menschen und
Wohnungen weiter fortgeführt werden,
6) den Vorstoß, öffentlichen Raum in Berlin mittels Änderung des § 24a
ASOG polizeilich dauerhaft videoüberwachen zu lassen solange zu
verwehren, bis ein verhältnismäßiger Einsatz von Überwachungskameras zur
Verhinderung von Straftaten von unabhängiger Seite wissenschaftlich bzw.
sachlich belegt werden kann,
7) eine Beschwerdestelle für Bürgerinnen und Bürger und Polizei zur
Annahme von Anregungen, Ideen, Beschwerden und Lob zum Verhalten von
Polizei oder anderen Teilen des Innensenats oder seiner Behörden in Form
einer/eines unabhängigen Polizeibeauftragten einzurichten,
8) den Einsatz von V-Leuten durch den Berliner Geheimdienst
(„Verfassungsschutz“) zu verbieten und den aktuell noch bestehenden
Einsatz von staatlich bezahlten und geschützten Spitzeln
schnellstmöglich zu beenden, die Behörde zu einer Institution
ausschließlich offener Beobachtung und Sammlung öffentlich verfügbarer
Informationen ohne weitere Befugnisse zurückzubauen, somit das
Trennungsgebot ernst zu nehmen und mit Leben zu erfüllen. Außerdem
fordern wir, zukünftig die Informations- und Bildungsarbeit an unseren
Schulen mit sofortiger Wirkung ausschließlich den dafür geeigneten
Stellen (z.B. Berliner Landeszentrale für politische Bildung oder
zivilgesellschaftlichen Organisationen) zu überlassen. Mittelfristig ist
die Abschaffung des Berliner Geheimdienstes anzustreben und
entsprechende Schritte zur Auflösung des „Berliner Verfassungsschutzes“
in der Abteilung II der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sind
einzuleiten.
Begründungen
Zu 1) Die VDB greift nicht nur unverhältnismäßig in die
informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein, sie gefährdet
außerdem die grundrechtlich verbriefte Versammlungsfreiheit (Artikel 8
GG). Die dreijährige personenbezogene Datenspeicherung ist für eine
potentielle Gefahrenprognose oder sonstige Zwecke (z.B. Lagebilder)
nicht erforderlich und gehört abgeschafft. Für die Details zur VDB siehe
https://netzpolitik.org/?s=veranstaltungsdatenbank
Zu 2) Die Benachrichtigung der Betroffenen ist eine elementare
Voraussetzung für die nachträgliche Beschreitung des Rechtsweges. Durch
die Auslegung der Vorschriften der StPO durch die Berliner
Staatsanwaltschaften unterbleibt diese jedoch fast immer, siehe z.B.
Ob Betroffene benachrichtigt werden wollen, entscheidet die Staatsanwaltschaft, nicht Betroffene
Zu 3) Die Zersplitterung des Versammlungsrechts nach der
Föderalismusreform gefährdet die Versammlungsfreiheit und stellt
ortsfremde Veranstalter von Demonstrationen vor große Probleme. Die
anlasslose Videoüberwachung schreckt potentielle TeilnehmerInnen ab,
siehe z.B.
Zu 4) Mit dem Berliner Pilotprojekt zum Einsatz von Taser-Waffen
durch allgemeine Polizeikräfte droht ein bundesweiter Dammbruch zum
breiten Einsatz dieser Waffe. Dabei wurde die Bezeichnung der
Taserwaffen nicht ohne Grund von „nicht-lethal“ (NLW) auf „wenig-lethal“
(LLW) geändert: Schon vor 8 Jahren meldete amnesty international, dass
in den USA zwischen 2001 und 2008 alleine 334 Menschen im Zusammenhang
mit dem Einsatz solcher Elektroschock-Waffen zu Tode gekommen sind:
https://www.amnesty.de/presse/2008/12/16/usa-334-todesfaelle-beim-einsatz-von-tasern
Ähnliche Berichte/Erfahrungen gibt es aus anderen Ländern.
Zu 5) Der Umgang der Berliner Polizei mit so genannten
„kriminalitätsbelasteten“ Gebieten, allgemein als „Gefahrengebiet“
bezeichnet, steht schon seit einiger Zeit unter heftiger, öffentlicher
Kritik. Die polizeieigene Rechtfertigung mit Bezug auf § 21 Absatz 2
Satz 1 ASOG erlaubt anlasslose Identitätsfeststellungen, die den
betroffenen Bewohnern, aber auch Besuchern und anderen unschuldigen
Personen einen großen Druck auferlegt. Es hängt der Verdacht des „racial
profiling“ in der Luft. Die von der Polizei selber festgelegte
Definition zur Begründung eines Gefahrengebietes (siehe
https://wiki.freiheitsfoo.de/pmwiki.php?n=Main.Gefahrengebiete#toc11 )
ist derart schwammig, dass beinahe jeder Bezirk Berlins darunter fallen
könnte. Die Intransparenz bzgl. Anzahl und Ausdehnung der
Gefahrengebiete ist einer Demokratie mit einer offen agierenden Polizei
unwürdig, mit den Begründungen zur Durchführung von Hausdurchsuchungen
in der Rigaer Straße im Januar 2016 hat sich die Behörde der allgemeinen
Lächerlichkeit preisgegeben.
Zu 6) Seitens vieler Experten wird klar angezeigt, dass eine
stationäre, polizeiliche Videoüberwachung des öffentlichen Raums keine
oder zumindest keine verhältnismäßige präventive Wirkung im Sinne der
Verhinderung von Straftaten besitzt (siehe z.B.
https://wiki.freiheitsfoo.de/pmwiki.php?n=Main.KFN-zu-Videoueberwachung
). Sofern es um die Verbesserung des „subjektiven Sicherheitsempfindens“
der Menschen geht, kann und darf diese keine Begründung für den mit der
Videoüberwachung verbundenen Eingriff in die Grundrechte der Menschen im
öffentlichen Raum der überwachten Plätze darstellen.
Zu 7) Eine derartige Beschwerdestelle, wie in vielen anderen
Bundesländern und auch international üblich und bewährt, ist für Berlin
längst überfällig und kann als neutrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und
Bürger fungieren, die sich über Belange der Verwaltung, insbesondere der
Polizei beschweren möchten, oder auch lobende Anmerkungen abgeben
können. Wichtig sind dabei die gesetzlichen Festschreibungen von
Befugnissen und Regelungen zur Berechtigung der Einleitung und
Fortführung von disziplinar- oder strafrechtlichen Verfahren und eigenen
Untersuchungen, wie sie z.B. in den §§ 5 und 6 eines dem Senat im Mai
2016 vorgelegten Entwurfes (siehe
www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/vorgang/d17-2966.pdf )
beschrieben worden sind.
Zu 8) Nicht nur die jüngere Vergangenheit (NSU- und NSA-Skandale)
beweist, dass sich die Praxis geheimdienstlich agierender staatlicher
Stellen nicht mit den Absichten und Idealen einer demokratisch
strukturierten Gesellschaft vereinbaren lassen. Ausweg aus dem
desaströsen Agieren der Geheimdienste inklusive der mittelbaren oder
sogar unmittelbaren Unterstützung gewaltbereiter oder -verherrlichender
Personen und Gruppen sowie der Vertuschung und Deckung von Straftaten
kann nur die mittelfristige Auflösung geheimdienstlicher Strukturen
sein. Insofern kann die Abschaffung des Berliner Geheimdienstes nicht
ausreichen – das Engagement der Berliner Landesregierung auf Bundesebene
für weitere Schritte in diese Richtung gehört ebenso dazu. Zu den
bürgerrechtlichen und pädagogischen Argumenten und Alternativen in
Hinsicht auf den Besuch des Verfassungschutzes an Schulen siehe z.B.
www.verfassung-schuetzen.de/schule-ohne-geheimdienst/
Unterzeichnende Gruppen (in alphabetischer Reihenfolge)
dieDatenschützer Rhein-Main – https://ddrm.de/
digitalcourage – https://digitalcourage.de/
freiheitsfoo – https://freiheitsfoo.de/
Humanistische Union, Landesverband Berlin-Brandenburg –
Republikanischer Anwältin- und Anwälteverein (RAV) – www.rav.de