Die beabsichtigte Einschränkung des Versammlungsrechts durch das Abgeordnetenhaus von Berlin ist fahrlässig
Am Donnerstag, 22.11.2012, berät das Abgeordnetenhaus von Berlin über einen Gesetzentwurf der Senatsinnenverwaltung „über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen“ (Drucksache 17/0642).
Mit diesem Gesetz soll schnell und ohne breite öffentliche Diskussion in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eingegriffen werden. Das geltende Bundesversammlungsgesetz, das in Berlin noch nicht durch ein Landesversammlungsgesetz ersetzt worden ist, soll in der Frage staatlicher Überwachung außer Kraft gesetzt werden. Nach dem Bundesversammlungsgesetz dürfen nur dann Bild- und Tonaufnahmen von Versammlungen angefertigt werden, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“ (§ 12 a). Immer wieder fertigt die Polizei auch dann Videoaufnahmen an, wenn diese rechtliche Grundlage nicht erfüllt ist. Mehrfach haben Gerichte geurteilt, dass die Videografie rechtswidrig erfolgte, obwohl schon hier die Deutungshoheit über „erhebliche Gefahren“ weitgehend bei der Polizei liegt.
Nun soll die Polizei in Berlin das Recht bekommen, nur aufgrund von unbestimmter „Größe“ oder inhaltsleerer „Unübersichtlichkeit“ „Übersichtsaufnahmen“ zu fertigen (§ 1 Abs. 2). Diese dürfen dann zwar nicht aufgezeichnet werden. Sowie die Polizei jedoch Anhaltspunkte auf „Gefahren“ findet, kann sie auf die Regelungen nach § 1 Abs. 1 überwechseln und gemäß Bundesversammlungsgesetz auch heranzoomen und aufzeichnen. Es handelt sich also um die Ermächtigung der Polizei, nach eigenem Gutdünken Versammlungen per Video und Bild zu überwachen. Nur zum Schein wird in der Begründung auf die hohe Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit verwiesen. Tatsächlich wird es in einem grundlegenden Element außer Kraft gesetzt.
Faktisch regelt das Gesetz eine anlasslose Aufzeichnung des gesamten Versammlungsgeschehens. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jedoch in seiner Entscheidung über das erste bayerische Versammlungsgesetz als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewertet. Auch das Verwaltungsgericht Berlin hat am 5. Juli 2010 (1 K 905.09) in seinem Urteil zur Videoüberwachung einer Demonstration gegen die Nutzung der Atomenergie festgestellt, dass Videoaufzeichnungen das Selbstbestimmungsrecht der Bürger und Bürgerinnen und die Demokratie gefährden. Auch wenn „nur“ Übersichtsaufnahmen angefertigt werden und diese nicht aufgezeichnet werden, sei dies für die Versammlungsteilnehmer nicht erkennbar. Zudem sei ein gezieltes Heranzoomen von Personen jederzeit möglich, so dass „durch das Gefühl des Beobachtetseins“ die Teilnehmenden „eingeschüchtert“ oder gar von der Teilnahme abgehalten werden könnten. „Dies würde nicht nur die individuelle Entfaltungschance des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“ Entsprechend entschied auch der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts NRW am 23. November 2010 (5 A 2288/09).
Der Senat von Berlin täuscht vor, es handele sich um eine Gesetzeslücke, die nun zu schließen sei. Tatsächlich bereitet er jedoch eine fahrlässige Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und eine Gefährdung demokratischer Teilhabe vor.
- Die nun produzierte Hektik im Eingriff in das Versammlungsrecht ist überflüssig und demokratiewidrig.
- Gerade große Versammlungen verlaufen erfahrungsgemäß friedlich und dürfen nicht anlasslos überwacht werden.
- Aufgrund der modernen technischen Möglichkeiten ist die Individualisierung von Personen auch bei sogenannten Übersichtsaufnahmen von Dächern, Hubschraubern oder Kamerawagen mit hydraulischen Mästen jederzeit möglich. Die Fotos können gegebenenfalls vergrößert werden.
- Die Bürger haben keinerlei Möglichkeiten, die Überwachungen rechtlich zu überprüfen, da die genehmigenden Begriffe – Größe oder Unübersichtlichkeit – völlig unbestimmt sind. Sie müssen von einer dauernden staatlichen Überwachung ausgehen.
Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 stellte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung deutlich in den demokratischen Kontext von Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten.“ (AZ 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83)
Das Land Berlin scheint dagegen die Bürger von der Wahrnehmung ihrer Grundechte abhalten und den Rest kontrollieren zu wollen.
Unterzeichner:
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
Internationale Liga für Menschenrechte
Humanistische Union Berlin-Brandenburg
Für Nachfragen:
Anja Heinrich (Humanistische Union): 030 / 204 2504
Dr. Elke Steven (Komitee für Grundrechte & Demokratie): 0177 / 762 1303
Vorlage „Gesetz über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen“ (Drucksache 17/0642): http://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/vorgang/d17-0642.pdf