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Argumente von „Pro Reli“ auf dem Prüfstand

29. November 2007

Die Initiative „Pro Reli“ fordert die Einführung eines Wahlpflichtfaches „Religion“ in Berlin. Mit einem Volksbegehren schlägt sie eine entsprechende Änderung des Berliner Schulgesetzes vor. Demzufolge soll der bisherige gemeinsame Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler abgeschafft werden. Stattdessen sollen sich alle entscheiden müssen, entweder am Religions- oder am Ethikunterricht teilzunehmen. (Wortlaut des Volksbegehrens hier).

Aus Sicht der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Unon gibt es gute Gründe, die gegen dieses Anliegen sprechen. Mit dem vorgeschlagenen Wahlpflichtbereich Religion/Ethik würden bekenntnisgebundener Unterricht und ein zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichteter allgemeinbildender Unterricht in einen Topf geworfen werden. Damit würde die gerade in Berlin wichtige Trennung von Staat und Kirche unterlaufen. Zudem würde die Chance vertan, dass alle Schülerinnen und Schüler in einem gemeinsamen Ethikunterricht etwas über die Grundlagen eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens lernen. In Berlin gibt es über 100 verschiedene Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und die Mehrheit ist konfessionslos. Nach unserer Auffassung ist es für die Integration und die Akzeptanz von Menschen mit unterschiedlicher religiös-weltanschaulicher Prägung besser, wenn sich alle Schülerinnen und Schüler in einem gemeinsamen Unterricht mit dieser Vielfalt beschäftigen.  Ein darüber hinausgehendes Angebot von bekenntnisgebundenem Unterricht sollte uneingeschränkt freiwillig bleiben.

Im Folgenden gehen wir auf die Behauptungen der Initiative „Pro Reli“ ein.

1. Behauptung:  „Ethi­k/Re­li­gion schafft Wahlfrei­heit“

Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist es bei näherer Betrachtung nicht. Ein Wahlzwang zwischen dem konfessionellen Religionsunterricht und dem allgemeinbildenden Fach Ethik ist so wenig sinnvoll wie eine Wahl zwischen Religion und Biologie oder Sport.

In dem entscheidenden Punkt der Glaubensfreiheit würde die Einführung eines Wahlpflichtfaches Ethik/Religion die gegenwärtig bestehende Wahlfreiheit gerade beschränken. Alle Schüler und Schülerinnen können sich gegenwärtig für oder gegen einen Bekenntnisunterricht entscheiden, ohne dass eine Entscheidung gegen den Bekenntnisunterricht für sie negative Folgen hätte. Wer einen Bekenntnisunterricht wünscht, kann zudem zwischen den Angeboten unterschiedlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auswählen. Bei einem Wahlpflichtfach Religion müsste Schüler und Schülerinnen, die sich gegen eines der bestehenden religiös bzw. weltanschaulich gebundenen Angebote entscheiden, ersatzweise das Fach Ethik belegen. Eine wirklich freie Entscheidung gegen den Religionsunterricht wäre also nicht möglich.

Berlin  ist auch rechtlich nicht gehalten, Schülern und Schülerinnen die Wahl zwischen Ethik und Religion zu ermöglichen. Dem Berliner Landesgesetzgeber steht es vielmehr zu, im Rahmen seines staatlichen Erziehungsauftrages nach Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz einen Ethikunterricht für alle Schüler und Schülerinnen als allgemeinbildendes ordentliches Lehrfach einzuführen. Verboten ist dem Staat lediglich, die Schüler und Schülerinnen selbst in einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu unterrichten. Der Ethikunterricht ist aber gerade religiös und weltanschaulich neutral angelegt. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss über eine Verfassungsbeschwerde gegen den Berliner Ethik-Unterricht festgestellt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 15.03.2007, 1 BvR 2780/06).

Schüler und Schülerinnen sind grundsätzlich im Rahmen ihrer Schulpflicht zum Besuch der ordentlichen Lehrfächer verpflichtet. Eine Möglichkeit zur Abmeldung kann nur ausnahmsweise in besonders begründeten Fällen bestehen. Etwas anderes kann auch nicht für das Fach „Ethik“ gelten.

2. Behauptung: „Ethi­k/Re­li­gion nimmt den unter­schied­li­chen Erfah­rungs­ho­ri­zont der Schüler ernst“

Das ist sehr zu hoffen, ist aber kein stichhaltiges Argument gegen den gemeinsamen Ethikunterricht, der zur Neutralität und Fairness gegenüber unterschiedlichen Bekenntnissen verpflichtet ist. Wie der an ein Bekenntnis gebundene Religionsunterricht andere Religionen oder weltliche Orientierungen behandelt, bleibt ihm dagegen selbst überlassen. Darum sollte dieser Unterricht uneingeschränkt freiwillig bleiben. Eine Allgemeinbildung über die Weltreligionen im gemeinsamen kann er nicht ersetzen. Auch Konfessionslose sollen etwas über das Christentum erfahren, auch Muslime etwas über das Judentum – und zwar nicht nur aus der Perspektive von Lehrerinnen und Lehrern,  die gesetzlich an ein bestimmtes Bekenntnis gebunden sind. Zwar sind  sicherlich  auch die meisten Religionslehrerinnen und -lehrer bemüht, auch andere Auffassungen angemessen zu behandeln, eine Garantie gibt es dafür aber nicht. Das betrifft übrigens keinesfalls nur den Islam. Auch z.B. die evangelische Kirche gab mit ihrer Kampagne „Keine Werte ohne Gott“ zumindest Anlass zum Zweifel, ob sie säkulare Wertorientierungen immer ernst nimmt. Das muss sie auch nicht tun, aber für einen staatlichen Unterricht scheint uns dies keine geeignete Leitlinie zu sein. Der Wert der Menschenrechte ist universell. Sie können unterschiedlich begründet werden und sie gelten unabhängig davon, ob jemand an Gott glaubt.

Um noch besser zu gewährleisten, dass Ethiklehrerinnen und -lehrer die unterschiedlichen Wertorientierungen ernst nehmen, fordert die Humanistische Union eine Verbesserung ihrer Ausbildung.

3. Behauptung „Ethi­k/Re­li­gion fördert Toleranz“

„Pro Reli“ behauptet, dass das Wahlpflichtfach Religion Toleranz fördere, weil Schüler und Schülerinnen den Wert von Grundüberzeugungen an sich zu schätzen lernen würden. In der Diskussion über Toleranz ist umstritten, ob jemand nur dann tolerant sein kann, wenn er oder sie einen festen Standpunkt hat, von dem aus andere Ansichten und Überzeugungen geduldet werden können. Ebenso gut  lässt sich vertreten, dass es eines solchen festen Standpunktes gerade nicht bedarf, er vielmehr hinderlich sein kann (so wohl die Annahme in der Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“). Im gegenwärtigen Berliner Modell wird Toleranz gefördert,  indem alle Schüler und Schülerinnen über die Vielfalt an Meinungen und Auffassungen im religiösen und weltanschaulichen Spektrum informiert werden, ohne einen festen Standpunkt zu vermitteln (was dem Land Berlin im Übrigen auch verwehrt wäre). Alle, die darüber hinaus standpunktgebundene Unterweisung wünschen, können Religionsunterricht oder weltanschauliche Lebenskunde wählen.

4. Behauptung: „Ethi­k/Re­li­gion bietet authen­ti­sche Lehrer“

Das  mag zutreffen, Gleiches gilt aber auch für das bestehende Modell. Auch Lehrerinnen und Lehrer des gemeinsamen Ethikunterrichts können (und sollen) Theorie und Praxis miteinander verbinden und an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anknüpfen. Ihre Neutralitätspflicht bezieht sich nur darauf, dass sie nicht für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung Partei ergreifen dürfen. Selbstverständlich dürfen sie aber für die Werte eintreten (und sie möglichst vorleben), die sich aus der Verfassung oder dem Bildungsauftrag der Schule ergeben.

Sofern  mit „Authentizität“ die Gebundenheit an ein bestimmtes Bekenntnis gemeint ist, besteht in Berlin die Möglichkeit, am freiwilligen Religions-  oder Lebenskunde teilzunehmen. Zudem können (und sollen) authentische Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen  Religionsgemeinschaften in den Ethikunterricht eingeladen werden.

5. Behauptung: „Ethi­k/Re­li­gion löst das momentane Dilemma des Pflicht­fachs Ethik“

 „Pro Reli“ argumentiert, ein nicht abwählbares Fach Ethik stehe vor dem Dilemma, einerseits Werte vermitteln zu sollen, andererseits weltanschaulich neutral sein zu müssen. Bei den Werten, die im Ethikunterricht „vermittelt“ werden sollen, handelt es sich aber gerade nicht um religiös oder weltanschaulich gebundene, sondern um solche, die auch völlig unabhängig vom Bekenntnis Geltung beanspruchen können, wie z.B. die Menschenrechte oder die Beachtung von Regeln der Toleranz, der Fairness und der Gleichberechtigung. Wertebildung findet zudem nicht einfach durch die Übernahme dessen statt, was vorgegeben wird, sondern durch Austausch, Reflektion und die Auseinandersetzung mit Unterschieden. Dazu bietet ein gemeinsamer Unterricht bessere Möglichkeiten als ein jeweils nach unterschiedlichen Überzeugungen getrennter.

Neutralität ist auch in anderen Fächern sicher eine Herausforderung für die Lehrenden, aber kein unauflösbares Dilemma. Auch wer Politik unterrichtet, ist zur Neutralität verpflichtet, kann aber Wissen vermitteln und Diskussionen moderieren. Niemand käme jedenfalls auf die Idee, die gebotene Neutralität sei nur zu gewährleisten, indem die Schülerinnen und Schüler zwischen christdemokratischem oder sozialdemokratischem Politikunterricht oder einem Fach für den Rest wählen müssten.

6. Behauptung:  „Ethi­k/Re­li­gion sichert staatliche Neutralität“

„Pro Reli“ argumentiert, dass Wertevermittlung weltanschaulich nie neutral sei. Mit dem Fach Ethik mische sich der Staat in Weltanschauungsfragen ein und verletze damit seine Neutralitätspflicht.  Allerdings wird der Staat durch das Grundgesetz nicht zu absoluter Wertneutralität verpflichtet. Ihm ist lediglich untersagt, sich zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu bekennen. Die staatliche Schule  muss sich aber zu den Werten des Grundgesetzes bekennen und diese im Unterricht vermitteln. Insoweit darf der staatliche Unterricht gerade nicht neutral sein. Werte wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Pluralismus und demokratische Verfahren, auf denen unser Grundgesetz aufbaut, können und sollen im ordentlichen Unterricht vermittelt werden. 
Die gebotene Neutralität des Staates in Glaubensangelegenheiten wird dagegen durch die von „Pro Reli“ vorgeschlagene Regelung in Frage gestellt. Ihr Gesetzentwurf sieht u.a. gemeinsame Unterrichtseinheiten von  Religions- und Ethikunterricht vor. Das würde bedeuten, dass auch Schülerinnen und Schüler, die keinen Religionsunterricht wünschen, sich religiöser Unterweisung nicht entziehen könnten. Das ist mit der Religionsfreiheit nicht vereinbar. Zudem stellt sich die Frage, mit welchem Religionsunterricht gemeinsame Phasen stattfinden sollen. Eine Privilegierung bestimmter Religionen bzw. Konfessionen würde gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.

7. Behauptung: „Ethi­k/Re­li­gion vermindert die Funda­men­ta­lis­mus­ge­fahr“

„Pro Reli“ legt nahe, nur in einem Wahlpflichtbereich mit Religion als ordentlichem Fach könnten Schülerinnen und Schüler lernen, dass Religion und Verfassungstreue keine Gegensätze sind. Aber auch im derzeitigen freiwilligen Religionsunterricht in Berlin darf keine verfassungswidrige Propaganda verbreitet werden. Umgekehrt schließt auch ein Wahlpflichtbereich nicht aus, dass  dort Gemeinschaften ihren Platz beanspruchen, die als fundamentalistisch bezeichnet werden könnten. Das Recht auf Erteilung von Religions- oder Weltanschauungsunterricht steht allen Bekenntnisgemeinschaften zu. Wer das Risiko des Fundamentalismus ganz ausschließen will, müsste Religionsunterricht deshalb in jeder Form aus der Schule heraushalten.

Der wesentliche Unterschied zwischen dem von „Pro Reli“ geforderten Wahlpflichtfach und dem bestehenden Berliner Modell ist die Rolle des Ethikunterrichts. Nur wenn dieser – wie bisher – ein Fach für alle Schülerinnen und Schüler ist, ist gewährleistet, dass alle etwas über das Verhältnis von Religionen und Verfassung lernen.

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