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Grundrechte in der Pandemie verteidigen - Positi­ons­pa­pier der HU Berlin-­Bran­den­burg

12. Dezember 2020

Es gilt, die Gesundheitsgefahren durch das Corona-Virus abzuwehren und dabei negative Folgen der Maßnahmen für Grundrechte, Gesundheit und Wohlergehen zu berücksichtigen.

Die Humanistische Union (HU) hat mit ihrem Positionspapier „Grund- und Menschenrechte gerade in der Krise bewahren“  am 20. April 2020 ihre große Sorge ausgedrückt, dass in der aktuellen Krise Grundrechte eingeschränkt und in Frage gestellt werden. Wir haben damals Kriterien formuliert, welche die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion erfüllen sollten. Im Folgenden bewerten wir die neuesten Corona-Eindämmungsmaßnahmen, die seit dem 2. November 2020 gelten und durch Beschluss vom 25. November 2020 verlängert wurden.

Die in Anführungsstriche gesetzten Überschriften sind Zitate aus dem genannten Positionspapier der Humanistischen Union.

„Transparente und demokratische politische Entscheidungen, die die Grund- und Freiheitsrechte bewahren, können für die Akzeptanz und Wirksamkeit notwendiger Maßnahmen sorgen.“

Die Grundrechte sollen einen zu respektierenden Rahmen für politisches Handeln darstellen, der selbst nicht zur Disposition von Politiker:innen steht. Der Politik sollen mit den Grundrechten Grenzen gesetzt werden.

Zugleich können zwischen oder innerhalb von Grundrechten Abwägungsnotwendigkeiten entstehen. Beispielsweise kann der Schutz vor der Infektion Maßnahmen erfordern, die die Gesundheit auf andere Weise beeinträchtigen. Dann muss zwischen verschiedenen Gesundheitsgefahren abgewogen werden, um das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Auch könnten Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf körperliche Unversehrtheit in Konflikt mit anderen Grundrechten, z.B. der freien Entfaltung, der Freizügigkeit oder der Berufswahlfreiheit stehen. Auch kann es Unsicherheiten geben, insbesondere wenn Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen. Jedenfalls sind die Grundrechte als Gesamtheit der Rahmen, innerhalb dessen Politik agieren kann.

Einschränkungen bestimmter Grundrechte zugunsten anderer Grundrechte können aufgrund einer bestimmten Situation notwendig sein. Sie müssen sich aber aus einer Abwägung der Grundrechte ergeben, dürfen nur temporär sein, müssen gut begründet und im Parlament beraten werden.

Richtlinie dabei soll der Schutz der Schwächsten sein. Es soll möglichst wenig Einschränkungen geben und, wenn Einschränkungen nötig sind, muss es für Betroffene eine Kompensation geben.

Im Moment bestimmen vor allem die Regierungschef:innen der Bundesländer und die Bundeskanzlerin hinter verschlossenen Türen über Geltung, Abwägungen und Gewichtung der Grundrechte. Es kann nicht sein, dass ein Koordinationsgremium hiermit Aufgaben eines Verfassungsorgans übernimmt.

Die von dieser Zusammenkunft getroffenen und auf Pressekonferenzen veröffentlichten „Beschlüsse“ werden anschließend von den Landesregierungen mit Verordnungen in Ver- und Gebote umgesetzt. Eine parlamentarische Beteiligung fehlt. Diese Umkehrung des Verhältnisses zwischen handelnder Politik auf der einen und Grundrechten auf der anderen Seite wird in der Öffentlichkeit noch dadurch verschärft, dass einzelne Politiker:innen mit Verschärfungen der Maßnahmen drohen und so ihre Souveränität im Umgang mit den Grundrechten demonstrieren.

Diese Verhältnisse, in denen Grundrechte nicht mehr die Politik binden, sondern zu ihrer Verfügungsmasse geworden sind, entsprechen nicht dem Geist eines auf Menschenrechten aufgebauten Rechtsstaats und eines an Solidarität und Partizipation orientierten Gemeinwesens. Immerhin nehmen Gerichte ihre Kontrollfunktion wahr und können Vorschriften aus den Verordnungen aufheben, wie es inzwischen einige Male geschehen ist.

Die Humanistische Union Berlin-Brandenburg fordert:

  • Die Bindung der Politik an die Grundrechte in ihrer Gesamtheit wiederherzustellen und den umfassenden Schutz der Grundrechte an die erste Stelle zu setzen.
  • dass die Abwägungen zwischen verschiedenen Gesundheitsgefahren und Grundrechten in einem öffentlichen transparenten Verfahren erfolgt, das in den Parlamenten stattfindet, wie es von unterschiedlichen politischen Kräften landes- und bundesweit inzwischen gefordert wird. Gegebenenfalls notwendige Eingriffe in Grundrechte müssen durch Gesetz erfolgen.

Die HU Berlin-Brandenburg begrüßt es, wenn Bürger:innen Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen durch Gerichte überprüfen lassen.

„Die Grundrechte müssen immer der Maßstab sein, an dem sich Maßnahmen auch in Krisensituationen orientieren. Jede Maßnahme, die Grundrechte einschränkt, muss unverzüglich einer Überprüfung unterzogen werden, ob sie zur Erreichung des Ziels geeignet, das mildeste Mittel und angemessen ist, und wann sie wieder zurückgenommen werden kann.“

Die Anti-Corona-Maßnahmen führen erkennbar zu Einschränkungen anderer Grundrechte. Sie bringen andere gesundheitliche Risiken mit sich, sodass sie in ihrer Gesamtheit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit nur teilweise dienen (z.B. dem Infektionsschutz dienen, aber gleichzeitig depressiv machen können). Beides ist zu berücksichtigen und bei Entscheidungen abzuwägen.

Die HU Berlin-Brandenburg begrüßt, dass einige Einschränkungen, die im Lockdown im März/April 2020 galten, nun nicht wieder angewendet werden:

  • Es sind diesmal keine Ausgangsbeschränkungen beschlossen worden.

Die damals ausgegebene Empfehlung, zu Hause zu bleiben, und, in einigen Bundesländern, das Verbot, ohne triftigen Grund die Wohnung zu verlassen, waren zur Bekämpfung der Pandemie ungeeignet, damit auch nicht notwendig und als riesige Einschränkung menschlicher Freiheit evident unangemessen.

  • Es gibt aktuell keine umfassende Aufhebung der Versammlungsfreiheit. Im Frühjahr war z.B. im Land Berlin wochenlang das Grundrecht der Versammlungsfreiheit komplett aufgehoben, und auch aktuell wird seine Einschränkung immer wieder diskutiert. Wir rufen die Politik auf, dieses wichtige Grundrecht zu respektieren. Die HU Berlin-Brandenburg hat dazu ihre Erklärung „Das Versammlungsrecht nicht gegen den Infektionsschutz ausspielen!“ beschlossen und am 21. Oktober 2020 veröffentlicht.
  • Für Gottesdienste gibt es keine neuen Einschränkungen. Allerdings gibt es eine Ungleichbehandlung bei Trauerfeiern. Je nachdem, ob ein:e Priester:in oder ein:e weltliche:r Trauerredner:in spricht, können unterschiedlich viele Menschen daran teilnehmen. Diese Ungleichbehandlung sollte sofort beendet werden. Das Land Brandenburg hat das vorbildlich geregelt.
  • Die meisten Geschäfte bleiben offen. Das ist angemessen, da sie inzwischen Hygienekonzepte erarbeitet haben.

Mit dem aktuellen Beschluss werden Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen geschlossen. Auch sie haben viel Zeit und Geld in Hygienekonzepte investiert. Das darin liegende Werturteil, wonach Arbeiten und Einkaufen grundsätzlich wichtiger sind als Sport, Kultur- und Freizeitaktivitäten, sollte gesellschaftlich diskutiert werden.

Da eine Corona-Infektion besonders für bestimmte Risikogruppen (ältere Menschen und Personen mit bestimmten Vorerkrankungen) gefährlich ist, sollten Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen werden.

Die HU Berlin-Brandenburg begrüßt es, die neuen Corona-Schnelltests bevorzugt in der Pflege zu nutzen, um hier gefährdete Menschen zu schützen und zugleich die Einrichtungen für Besuche zu öffnen. Die HU fordert, mehr zu tun, um Menschen in Pflegeeinrichtungen besser zu schützen und zugleich zwischenmenschliche Kontakte zu erhalten. Dazu gehört die kostenlose Bereitstellung von FFP-2-Masken. Bei Corona-Fällen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollte das gesamte Haus geschlossen werden.

„Bei Entscheidungen/Maßnahmen müssen auch die damit verbundenen anderen Risiken berücksichtigt werden.“

Die Politik ist derzeit auf die Eindämmung der Corona-Pandemie fokussiert. Dies wird auch daran erkennbar, dass detaillierte Daten über Infektionen, die Belegung der Intensivstationen und Todesfälle durch Covid-19 täglich im Auftrag der Regierung bereitgestellt und veröffentlicht werden. An diesen Daten wird aktuell der Erfolg oder Misserfolg der Regierungspolitik in Bund und Ländern gemessen.

Die Politik macht es in diesem Zusammenhang weiterhin zu ihrer Aufgabe schnell zu handeln, um zu verhindern, dass Menschen schwer erkranken oder gar an dem Virus sterben. Die HU Berlin-Brandenburg begrüßt es, dass die Eindämmung der Pandemie einen hohen politischen Stellenwert hat. Notwendig ist aber die umfassende Betrachtung und Einbeziehung aller Folgen.

Die Anti-Corona-Maßnahmen des Staates haben auch negative Folgen für das Wohlergehen und die Gesundheit von Menschen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Kontakte für sein Wohlbefinden. Menschen mit gelungenen Sozialkontakten leben in vielerlei Hinsicht gesünder. Begegnungsorte wie Gaststätten, Clubs, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Feiern und Geselligkeit können deshalb nicht als unnötiger Luxus abgetan werden. Gerade auch für kranke Menschen und Bewohner:innen von Pflegeeinrichtungen sind zwischenmenschliche Kontakte für ihr Wohlergehen extrem wichtig.

Die Kontaktbeschränkungen kollidieren mit menschlichen Grundbedürfnissen. Beispielsweise gilt in Berlin seit Monaten eine Vorschrift, wonach Menschen ihre physisch sozialen Kontakte möglichst gering halten müssen. Unbeachtet dessen fordert der Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschef:innen der Bundesländer vom 28. Oktober und vom 25. November 2020, die Menschen müssten ihre Kontakte noch weiter verringern. Welche Folgen dies für die seelische und körperliche Gesundheit hat, muss dringend untersucht und zu dem angenommenen Mehrwert der Kontaktbeschränkungen ins Verhältnis gesetzt werden. Mögliche negative Folgen der Maßnahmen wie zunehmende Einsamkeit, Depression, Sucht, Suizid, häusliche Gewalt, zwischenmenschliche Distanz, Bewegungsmangel oder ein Mangel an Licht und frischer Luft werden von den Regierenden viel zu wenig beachtet. Sie müssen gesehen und bei den Entscheidungen über Anti-Corona-Maßnahmen berücksichtigt werden.

Die HU Berlin-Brandenburg fordert, dass mögliche negative Folgen der Maßnahmen gründlich erforscht, zeitnah erfasst, öffentlich diskutiert und in die Entscheidungen einbezogen werden. Sind Maßnahmen trotz negativer Nebenwirkungen notwendig, muss der Staat entsprechende Hilfsangebote unterstützen.

Die verhängten Kontaktbeschränkungen sind entsprechend sowohl in ihrer epidemiologischen Wirksamkeit, die alles andere als unumstritten ist, als auch im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu überprüfen. Die HU Berlin-Brandenburg fordert, dass dabei die Interessen von kranken Menschen, den von Covid-19 genesenen Menschen und den Hinterbliebenen von an Covid-19 verstorbenen Menschen, Bewohner:innen von Einrichtungen, Menschen mit Behinderungen, Menschen in beengten Wohnverhältnissen und Menschen ohne Wohnung besonders berücksichtigt werden.

„Alle Einschränkungen von Grundrechten müssen unverzüglich nach Ende der aktuellen Krisensituation überprüft und ggf. zurückgenommen werden.“

Die HU Berlin-Brandenburg begrüßt, dass die beschlossenen Maßnahmen befristet sind und auch zukünftig befristet werden. Wir bekräftigen, dass Grundrechtseinschränkungen laufend juristisch überprüft sowie parlamentarisch und öffentlich diskutiert werden müssen. Grundrechtseinschränkungen müssen sofort zurückgenommen werden, sobald ihr Grund nicht mehr besteht.

(besprochen und beschlossen auf den Aktiventreffen der HU Berlin-Brandenburg im November/Anfang Dezember 2020)

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